In den vergangenen Wochen hat das Statistische Bundesamt stillschweigend eine zentrale Datengrundlage zur Armutsforschung entfernt: Die sogenannten Armutsgefährdungsquoten auf Basis des Mikrozensus-Kerns (MZ-Kern), gemessen am Bundesmedian, sind nicht mehr öffentlich zugänglich und sogar rückwirkend ab 2020 aus dem Statistikportal gelöscht worden.

Bislang wurden Armutsquoten aus zwei Erhebungen veröffentlicht:

  • MZ-Kern (große Stichprobe, detaillierte regionale und soziodemografische Analysen möglich)
  • MZ-SILC (EU-weit standardisierte Erhebung, kleinere Fallzahlen, aber EU-Vergleichbarkeit)

Mit der Entfernung der MZ-Kern-Daten nach Bundesmedian sind wichtige Vergleiche nicht mehr möglich. Brisant ist: Für 2023 liegt die Armutsquote nach MZ-SILC bei 15,5 %, nach den MZ-Kern-Daten jedoch bei 16,6 % – das entspricht über einer Million Menschen Unterschied.

Gemeinsam mit insgesamt 30 Armutsforscher*innen haben wir uns deshalb in einem offenen Brief an die Präsidentin des Statistischen Bundesamtes, Dr. Ruth Brand, gewandt. Wir sehen in diesem Schritt einen massiven Eingriff in die wissenschaftliche Freiheit und fordern die Rückkehr zur bisherigen transparenten Veröffentlichungspraxis.

Offener Brief vom 11. August 2025

(vollständiger Wortlaut)

An
Die Präsidentin
des Statistischen Bundesamtes
Frau Dr. Ruth Brand

Armutsgefährdungsquoten auf Basis des MZ-Kern

Sehr geehrte Frau Präsidentin,

mit großer Verwunderung mussten wir feststellen, dass das Statistische Bundesamt Armutsgefährdungsquoten, berechnet nach dem Bundesmedianeinkommen auf Basis des MZ-Kern, nicht mehr veröffentlicht und auch rückwirkend für die Jahre 2020 bis 2023 von der Homepage gelöscht hat.

Begründet wird dies damit, dass EU-SILC die amtliche Hauptdatenquelle für die Messung von Einkommen und die daraus abgeleitete Armutsgefährdung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union sei. Mit der Nicht-Veröffentlichung und der Löschung der MZ-Kern-Armutsquoten, berechnet nach dem Bundesmedian, solle die Veröffentlichung unterschiedlicher Armutsquoten vermieden werden. Zudem sei die Einkommenserfassung bei EU-SILC zuverlässiger als im MZ-Kern.

Wir, die unterzeichnenden Armutsforscherinnen und Armutsforscher, betrachten dies als einen nicht akzeptablen Eingriff in die wissenschaftliche Freiheit. Selbstverständlich kann man, so wie die Fachleute Ihres Hauses, der Ansicht sein, dass die Einkommenserfassung bei EU-SILC der beim MZ-Kern methodisch überlegen ist, doch ist diese Meinung speziell unter dem Aspekt der Berechnung von Einkommensarmut in der Fachwelt nicht ungeteilt. Es gibt gute Gründe dafür, mit den Daten von EU-SILC zu rechnen, bekanntermaßen aber auch ebenso gute Gründe, auf die Quoten von MZ-Kern zurückzugreifen, vor allem wegen der höheren Fallzahlen und der möglichen Veröffentlichung nach sozio-demografischen Merkmalen und Bundesländern.

Der Hinweis, man wolle künftig „die Veröffentlichung unterschiedlicher Ergebnisse zu ein und demselben vermeintlichen Sachverhalt“ vermeiden, ist denkbar unwissenschaftlich. Vielmehr grenzt es bereits an behördliche Willkür, wenn ein Bundesamt Ergebnisse von allgemeinem wissenschaftlichen und öffentlichem Interesse zurückhält und damit die gesamte Fachdiskussion und öffentliche Rezeption beschnitten werden. Oder in eine bestimmte Richtung gelenkt werden sollen?

Wir möchten Sie daher dringend ersuchen, bei der bisherigen transparenten Veröffentlichungspraxis zu bleiben und die Einkommens- und Armutsgefährdungsberechnungen nach dem Bundesmedian, differenziert nach Bundesländern und sozio-demografischen Kriterien, auf der Basis des MZ-Kern zeitnah wieder zur Verfügung zu stellen und fortzuschreiben.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Ulrich Schneider (GKS Consult)
Prof. Dr. Christoph Butterwegge (Universität Köln)
Prof. Dr. Stefan Sell (Hochschule Koblenz)
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Institut für Sozialökologie ISÖ)
Prof. Dr. Ilker Ataç (Hochschule Fulda)
Prof. Dr. Carmela Aprea (Universität Mannheim)
Dr. Irene Becker (Empirische Verteilungsforschung Riedstadt)
Prof. em. Dr. Gerd Bosbach (Hochschule Koblenz)
Prof. Dr. Antonio Brettschneider (Technische Hochschule Köln)
Prof. em. Dr. Karl August Chassé (EAH Jena)
Prof. Dr. Frank Deppe (Philipps-Universität Marburg)
Prof. Dr. Alexander Dietz (Hochschule Hannover)
Prof. Dr. Klaus Dörre (Universität Kassel)
Dr. Jürgen Faik (FaSo – Dr. Faik Sozialforschung)
Dr. Markus M. Grabka (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung e.V. – DIW Berlin)
Prof. Dr. Christoph Gille (Hochschule Düsseldorf)
Prof. Dr. Rudolf Hickel (Institut für Arbeit und Wirtschaft)
Gerda Holz (Armutsforscherin)
Prof. Dr. Michael Klundt (Hochschule Magdeburg-Stendal)
Prof. Dr. Stephan Lessenich (Institut für Sozialforschung, Univ. Frankfurt a.M.)
Dr. Martyna Linartas (Freie Universität Berlin)
Prof. Dr. Gero Lipsmeier (University of Applied Sciences – UAS – Frankfurt a.M.)
Prof. em. Dr. Ronald Lutz (University of Applied Science – UAS – Erfurt)
Prof. Dr. Michael Opielka (ISÖ – Institut für Sozialökologie)
Prof. Dr. Peter Rahn (Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen)
Prof. Dr. Andreas Rein (Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen)
Prof. Dr. Jörg Reitzig (Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen)
Prof. Dr. Johannes Schütte (Technischen Hochschule Köln)
Prof. Dr. Franz Segbers (Universität Marburg)
Gwendolyn Stilling (GKS Consult)

FAQ: Was steckt hinter dem Streit um die Armutsdaten?

1. Was ist der MZ-Kern?
Der Mikrozensus-Kern ist Deutschlands größte amtliche Haushaltsbefragung. Er liefert detaillierte Daten zu Einkommen, Wohnen, Bildung, Arbeit u.v.m. Die große Stichprobe ermöglicht verlässliche Analysen nach Bundesländern und Regionen, Altersgruppen, Geschlecht und anderen soziodemografischen Merkmalen.

2. Was ist MZ-SILC?
MZ-SILC (früher EU-SILC) ist eine speziell auf EU-Vergleiche zugeschnittene Erhebung. Die Stichprobe ist kleiner, was weniger Detailauswertungen zulässt. Sie wird aber von der EU als Hauptquelle für Armutsstatistiken genutzt.

3. Was ist der Bundesmedian?
Der Bundesmedian ist das mittlere Einkommen in Deutschland: Die Hälfte der Bevölkerung verdient weniger, die andere Hälfte mehr. Er dient als Bezugsgröße für die Armutsgefährdungsschwelle (60 % des Medians).

4. Warum sind die Unterschiede zwischen MZ-Kern und MZ-SILC relevant?
Weil sie zu deutlich unterschiedlichen Ergebnissen führen können. Beispiel: 2023 lag die Armutsquote nach MZ-Kern bei 16,6 %, nach MZ-SILC bei 15,5 %. In absoluten Zahlen sind das über 1 Million Menschen Unterschied.

5. Warum ist die Entfernung der Daten problematisch?

  • Weniger Transparenz in der öffentlichen Statistik
  • Einschränkung der wissenschaftlichen Analyse
  • Gefahr einer einseitigen Darstellung der Armutsentwicklung
  • Verlust regionaler und soziodemografischer Detailauswertungen

Unser Standpunkt: Wer politische Entscheidungen und gesellschaftliche Debatten auf soliden Fakten aufbauen will, braucht den vollen Zugang zu allen relevanten Datenquellen, nicht nur zu ausgewählten.


Eine Antwort zu „Armutsdaten verschwinden aus der Statistik: Offener Brief an das Statistische Bundesamt“

  1. Avatar von Micha
    Micha

    Anscheinend ein „guter“ und vor allem einfacher Weg die Armut in Deutschland von staatlicher Seite öffentlichkeitswirksam kostengünstig und mit geringem Aufwand zu verringern, indem man erhobene und zu anderen Ergebnissen führende Daten einfach verschweigt bzw. nicht berücksichtigt! Eine nach außen hin effizient wirkende, aber sehr oberflächliche und in keiner Weise nachhaltige Methode, um die Armut in Deutschland zu verringern. Ein darüber hinausgehender offener wissenschaftlicher Ansatz zur Armutsforschung und Erhebung wird durch staatliche Institutionen eingeschränkt und behindert! Dass diese bereits erhobenen Daten rückwirkend zudem auch noch gelöscht wurden, ist das eigentliche Armutszeugnis dieser Vorgänge:
    Die sozialpolitischen Diskussionen zu diesem Thema und die wissenschaftliche Arbeit in diesem Bereich werden dadurch erheblich beeinträchtigt. Die Behörden stehen meiner Meinung nach in der Pflicht, die mit Steuergeldern erhobenen Daten der Wissenschaft und Allgemeinheit vollumfänglich zur Verfügung zu stellen! Nur so wäre Objektivität und eine größere Transparenz, die gerade bei diesem Thema für ein möglichst vollumfassendes Bild der Gesamtlage so elementar ist, gewährleistet!
    Der nun eingeschlagene Weg des Statistischen Bundesamtes ist definitiv nicht der richtige Ansatz, die Armut in Deutschland transparent und öffentlich zu machen, damit sie richtig bekämpft und effektiv verringert werden kann!
    Letztlich geht es ja darum, den betroffenen Menschen zu helfen, die hinter diesen Zahlen stehen und nicht um mit vergleichbaren Zahlen und Quoten einfach nur besser dazustehen, ohne das wirkliche Maßnahmen getroffen werden, die Armut in Deutschland wirksam zu bekämpfen!

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