In den vergangenen Wochen hat das Statistische Bundesamt stillschweigend eine zentrale Datengrundlage zur Armutsforschung entfernt: Die sogenannten Armutsgefährdungsquoten auf Basis des Mikrozensus-Kerns (MZ-Kern), gemessen am Bundesmedian, sind nicht mehr öffentlich zugänglich und sogar rückwirkend ab 2020 aus dem Statistikportal gelöscht worden.

Bislang wurden Armutsquoten aus zwei Erhebungen veröffentlicht:

  • MZ-Kern (große Stichprobe, detaillierte regionale und soziodemografische Analysen möglich)
  • MZ-SILC (EU-weit standardisierte Erhebung, kleinere Fallzahlen, aber EU-Vergleichbarkeit)

Mit der Entfernung der MZ-Kern-Daten nach Bundesmedian sind wichtige Vergleiche nicht mehr möglich. Brisant ist: Für 2023 liegt die Armutsquote nach MZ-SILC bei 15,5 %, nach den MZ-Kern-Daten jedoch bei 16,6 % – das entspricht rund einer Million Menschen Unterschied.

Gemeinsam mit insgesamt 30 Armutsforscher*innen haben wir uns deshalb in einem offenen Brief an die Präsidentin des Statistischen Bundesamtes, Dr. Ruth Brand, gewandt. Wir sehen in diesem Schritt einen massiven Eingriff in die wissenschaftliche Freiheit und fordern die Rückkehr zur bisherigen transparenten Veröffentlichungspraxis.

Offener Brief vom 11. August 2025

(vollständiger Wortlaut)

An
Die Präsidentin
des Statistischen Bundesamtes
Frau Dr. Ruth Brand

Armutsgefährdungsquoten auf Basis des MZ-Kern

Sehr geehrte Frau Präsidentin,

mit großer Verwunderung mussten wir feststellen, dass das Statistische Bundesamt Armutsgefährdungsquoten, berechnet nach dem Bundesmedianeinkommen auf Basis des MZ-Kern, nicht mehr veröffentlicht und auch rückwirkend für die Jahre 2020 bis 2023 von der Homepage gelöscht hat.

Begründet wird dies damit, dass EU-SILC die amtliche Hauptdatenquelle für die Messung von Einkommen und die daraus abgeleitete Armutsgefährdung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union sei. Mit der Nicht-Veröffentlichung und der Löschung der MZ-Kern-Armutsquoten, berechnet nach dem Bundesmedian, solle die Veröffentlichung unterschiedlicher Armutsquoten vermieden werden. Zudem sei die Einkommenserfassung bei EU-SILC zuverlässiger als im MZ-Kern.

Wir, die unterzeichnenden Armutsforscherinnen und Armutsforscher, betrachten dies als einen nicht akzeptablen Eingriff in die wissenschaftliche Freiheit. Selbstverständlich kann man, so wie die Fachleute Ihres Hauses, der Ansicht sein, dass die Einkommenserfassung bei EU-SILC der beim MZ-Kern methodisch überlegen ist, doch ist diese Meinung speziell unter dem Aspekt der Berechnung von Einkommensarmut in der Fachwelt nicht ungeteilt. Es gibt gute Gründe dafür, mit den Daten von EU-SILC zu rechnen, bekanntermaßen aber auch ebenso gute Gründe, auf die Quoten von MZ-Kern zurückzugreifen, vor allem wegen der höheren Fallzahlen und der möglichen Veröffentlichung nach sozio-demografischen Merkmalen und Bundesländern.

Der Hinweis, man wolle künftig „die Veröffentlichung unterschiedlicher Ergebnisse zu ein und demselben vermeintlichen Sachverhalt“ vermeiden, ist denkbar unwissenschaftlich. Vielmehr grenzt es bereits an behördliche Willkür, wenn ein Bundesamt Ergebnisse von allgemeinem wissenschaftlichen und öffentlichem Interesse zurückhält und damit die gesamte Fachdiskussion und öffentliche Rezeption beschnitten werden. Oder in eine bestimmte Richtung gelenkt werden sollen?

Wir möchten Sie daher dringend ersuchen, bei der bisherigen transparenten Veröffentlichungspraxis zu bleiben und die Einkommens- und Armutsgefährdungsberechnungen nach dem Bundesmedian, differenziert nach Bundesländern und sozio-demografischen Kriterien, auf der Basis des MZ-Kern zeitnah wieder zur Verfügung zu stellen und fortzuschreiben.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Ulrich Schneider (GKS Consult)
Prof. Dr. Christoph Butterwegge (Universität Köln)
Prof. Dr. Stefan Sell (Hochschule Koblenz)
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Institut für Sozialökologie ISÖ)
Prof. Dr. Ilker Ataç (Hochschule Fulda)
Prof. Dr. Carmela Aprea (Universität Mannheim)
Dr. Irene Becker (Empirische Verteilungsforschung Riedstadt)
Prof. em. Dr. Gerd Bosbach (Hochschule Koblenz)
Prof. Dr. Antonio Brettschneider (Technische Hochschule Köln)
Prof. em. Dr. Karl August Chassé (EAH Jena)
Prof. Dr. Frank Deppe (Philipps-Universität Marburg)
Prof. Dr. Alexander Dietz (Hochschule Hannover)
Prof. Dr. Klaus Dörre (Universität Kassel)
Dr. Jürgen Faik (FaSo – Dr. Faik Sozialforschung)
Dr. Markus M. Grabka (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung e.V. – DIW Berlin)
Prof. Dr. Christoph Gille (Hochschule Düsseldorf)
Prof. Dr. Rudolf Hickel (Institut für Arbeit und Wirtschaft)
Gerda Holz (Armutsforscherin)
Prof. Dr. Michael Klundt (Hochschule Magdeburg-Stendal)
Prof. Dr. Stephan Lessenich (Institut für Sozialforschung, Univ. Frankfurt a.M.)
Dr. Martyna Linartas (Freie Universität Berlin)
Prof. Dr. Gero Lipsmeier (University of Applied Sciences – UAS – Frankfurt a.M.)
Prof. em. Dr. Ronald Lutz (University of Applied Science – UAS – Erfurt)
Prof. Dr. Michael Opielka (ISÖ – Institut für Sozialökologie)
Prof. Dr. Peter Rahn (Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen)
Prof. Dr. Andreas Rein (Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen)
Prof. Dr. Jörg Reitzig (Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen)
Prof. Dr. Johannes Schütte (Technischen Hochschule Köln)
Prof. Dr. Franz Segbers (Universität Marburg)
Gwendolyn Stilling (GKS Consult)

Weitere Unterstützer*innen, die sich seit Veröffentlichung des Briefes Kritik und Forderungen angeschlossen haben:

Prof. Dr. Bernhard Emunds (Phil.-Theol. Hochschule Sankt Georgen)
Prof. Dr. Susanne Gerull (Alice-Salomon-Hochschule Berlin)
Prof. Dr. Andrea Janßen (Hochschule Esslingen)
Dr. Ingmar Kumpmann (Deutscher Gewerkschaftsbund, DGB)
Prof. Dr. Kai Marquardsen (Fachhochschule Kiel)
Prof. Dr. Werner Schönig (Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen, Köln)

FAQ: Was steckt hinter dem Streit um die Armutsdaten?

1. Was ist der MZ-Kern?
Der Mikrozensus-Kern ist Deutschlands größte amtliche Haushaltsbefragung. Er liefert detaillierte Daten zu Einkommen, Wohnen, Bildung, Arbeit u.v.m. Die große Stichprobe ermöglicht verlässliche Analysen nach Bundesländern und Regionen, Altersgruppen, Geschlecht und anderen soziodemografischen Merkmalen.

2. Was ist MZ-SILC?
MZ-SILC (früher EU-SILC) ist eine speziell auf EU-Vergleiche zugeschnittene Erhebung. Die Stichprobe ist kleiner, was weniger Detailauswertungen zulässt. Sie wird aber von der EU als Hauptquelle für Armutsstatistiken genutzt.

3. Was ist der Bundesmedian?
Der Bundesmedian ist das mittlere Einkommen in Deutschland: Die Hälfte der Bevölkerung verdient weniger, die andere Hälfte mehr. Er dient als Bezugsgröße für die Armutsgefährdungsschwelle (60 % des Medians).

4. Warum sind die Unterschiede zwischen MZ-Kern und MZ-SILC relevant?
Weil sie zu deutlich unterschiedlichen Ergebnissen führen können. Beispiel: 2023 lag die Armutsquote nach MZ-Kern bei 16,6 %, nach MZ-SILC bei 15,5 %. In absoluten Zahlen sind das rund 1 Million Menschen Unterschied.

5. Warum ist die Entfernung der Daten problematisch?

  • Weniger Transparenz in der öffentlichen Statistik
  • Einschränkung der wissenschaftlichen Analyse
  • Gefahr einer einseitigen Darstellung der Armutsentwicklung
  • Verlust regionaler und soziodemografischer Detailauswertungen

Unser Standpunkt: Wer politische Entscheidungen und gesellschaftliche Debatten auf soliden Fakten aufbauen will, braucht den vollen Zugang zu allen relevanten Datenquellen, nicht nur zu ausgewählten.


9 Antworten zu „Armutsdaten verschwinden aus der Statistik: Offener Brief an das Statistische Bundesamt“

  1. Avatar von Micha
    Micha

    Anscheinend ein „guter“ und vor allem einfacher Weg die Armut in Deutschland von staatlicher Seite öffentlichkeitswirksam kostengünstig und mit geringem Aufwand zu verringern, indem man erhobene und zu anderen Ergebnissen führende Daten einfach verschweigt bzw. nicht berücksichtigt! Eine nach außen hin effizient wirkende, aber sehr oberflächliche und in keiner Weise nachhaltige Methode, um die Armut in Deutschland zu verringern. Ein darüber hinausgehender offener wissenschaftlicher Ansatz zur Armutsforschung und Erhebung wird durch staatliche Institutionen eingeschränkt und behindert! Dass diese bereits erhobenen Daten rückwirkend zudem auch noch gelöscht wurden, ist das eigentliche Armutszeugnis dieser Vorgänge:
    Die sozialpolitischen Diskussionen zu diesem Thema und die wissenschaftliche Arbeit in diesem Bereich werden dadurch erheblich beeinträchtigt. Die Behörden stehen meiner Meinung nach in der Pflicht, die mit Steuergeldern erhobenen Daten der Wissenschaft und Allgemeinheit vollumfänglich zur Verfügung zu stellen! Nur so wäre Objektivität und eine größere Transparenz, die gerade bei diesem Thema für ein möglichst vollumfassendes Bild der Gesamtlage so elementar ist, gewährleistet!
    Der nun eingeschlagene Weg des Statistischen Bundesamtes ist definitiv nicht der richtige Ansatz, die Armut in Deutschland transparent und öffentlich zu machen, damit sie richtig bekämpft und effektiv verringert werden kann!
    Letztlich geht es ja darum, den betroffenen Menschen zu helfen, die hinter diesen Zahlen stehen und nicht um mit vergleichbaren Zahlen und Quoten einfach nur besser dazustehen, ohne das wirkliche Maßnahmen getroffen werden, die Armut in Deutschland wirksam zu bekämpfen!

  2. Avatar von Marianne Lampel
    Marianne Lampel

    Kein Mensch in prekärer Lage möchte kleingerechnet noch aus der Statistik verschwinden!

  3. Avatar von Prof. Dr. Susanne Gerull

    Werden noch weiter Unterschreibende gesucht?

    1. Avatar von admin

      Wenn Sie Kritik und Forderungen unterstützen möchten, schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an kontakt@gks-consult.de .

  4. Avatar von KlausK
    KlausK

    Ich empfehle den Verfassern des Offenen Briefs sowie den vorhergehenden Kommentatoren sich einmal die Stellungnahme der Unstatistik des Monats zu Gemüte zu führen und zu reflektieren, wogegen hier eigentlich protestiert wird – nämlich nichts!
    https://www.rwi-essen.de/presse/wissenschaftskommunikation/unstatistik/detail/wenn-statistik-zum-politikum-wird-wie-unbegruendete-manipulationsvorwuerfe-der-demokratie-schaden

  5. Avatar von Prof. Horst Müller-Peters
    Prof. Horst Müller-Peters

    Es sollte jedem statistisch ausgebildeten Forscher klar sein, dass eine am Median orientierte Armutsgefährdungsquote nicht Armut misst, sondern lediglich eine Kennzahl der (Un-)Gleichverteilung darstellt. Zudem scheint der neue, EU-weite Messwert die tatsächliche „Gefährdungsquote“ realistischer, da regional besser angepasst abzubilden als der alte „MZ-Kern“.
    Natürlich spricht das Argument der besseren Vergleichbarkeit im Längsschnitt sowie – aufgrund der größeren Stichprobe – auch nach Subgruppen im Querschnitt für eine Fortführung auch der alten Kennzahl.
    Wenn jedoch – wie im obigen Brief suggeriert und so von den Medien breit aufgenommen – der Eindruck erweckt wird, der Wert messe „Armut“, und die Änderung solle die Armut künstlich kleinrechnen, so ist dies wissenschaftlich nicht haltbar, zumal dann ja zuzugeben wäre, dass die bisherige „Armutsquote“ zu hoch angesetzt war.
    Auch und gerade akademische Armutsforscher sollten im Sinne einer funktionierenden Demokratie um eine objektive Darstellung bemüht sein und nicht in „Trump-sche Schemata“ verfallen (siehe dessen jüngste Entlassung der Chefin des Amtes für Arbeitsmarktstatistik aufgrund unliebsamer Daten). „Vertrauen in Statistik ist die Grundlage einer funktionierenden Demokratie“, wie eine Gruppe führender deutscher Statistiker in einer kritischen Stellungnahme zum obigen Brief schrieb (unbedingt lesenswert: https://www.marktforschung.de/marktforschung/a/wenn-statistik-zum-politikum-wird-wie-unbegruendete-manipulationsvorwuerfe-der-demokratie-schaden/ ).
    Als Forscher sind wir in der Verantwortung, dieses Vertrauen nicht zu untergraben.

  6. Avatar von hape
    hape

    Hier die Antwort der Betroffenen (sollte man auch veröffentlichen).
    Fall 2: die verschwundenen Armen

    Das Statistische Bundesamt hat die Methode zur Berechnung der Armutsgefährdungsquote geändert. Statt des MZ-Kern (Mikrozensus Kernprogramm) verwendet es nun den MZ-SILC (Statistics of Income and Living Conditions), um die europäische Vergleichbarkeit zu verbessern. Darüber hat das Amt seine Nutzer auch transparent informiert. Die bisherigen Berechnungen wurden archiviert.

    MZ-SILC ist speziell auf EU-Vergleiche zugeschnitten und erfasst insbesondere Einkommen besser, die nicht aus der Erwerbsarbeit stammen – etwa Kindergeld, BAföG, Pflege- oder Wohngeld. Außerdem wird das genaue Einkommen in Euro erfragt und nicht nur das Einkommen nach groben Klassen, sodass insgesamt verlässlichere Daten zur Verfügung stehen als bisher. Die geringere Stichprobengröße führt allerdings dazu, dass Analysen der Armutsgefährdungsgrößen im MZ-SILC nach sozioökonomischen Charakteristika nur mit einer größeren Unsicherheit möglich sind.

    30 Armutsforscher haben nun in einem Protestbrief gefordert, die Berechnung der Armutsgefährdungsquote auf Basis von MZ-Kern fortzuführen. Das Vorgehen des Statistischen Bundesamts sei „denkbar unwissenschaftlich“ und es grenze „bereits an behördliche Willkür, wenn ein Bundesamt Ergebnisse von allgemeinem wissenschaftlichem und öffentlichem Interesse zurückhält und damit die gesamte Fachdiskussion und öffentliche Rezeption beschnitten werden. Oder in eine bestimmte Richtung gelenkt werden sollen?“ Es könne doch nicht sein, dass durch die Umstellung über Nacht eine Million armutsgefährdete Menschen verschwunden sind.

    Das sind sie auch nicht. Sie haben höchstwahrscheinlich niemals existiert, sondern waren das Ergebnis von Messfehlern durch die weniger präzise und systematisch verzerrte Erfassung im MZ-Kern.

    Am Rande bemerkt: Über die Interpretation der Armutsgefährdungsquote kann man sich lange streiten. Wir haben im Rahmen der Unstatistik mehrfach darauf hingewiesen, dass dieser Indikator mit „Armut“ im allgemeinen Verständnis wenig zu tun hat. Um ein umfassenderes Bild des Phänomens „Armut“ zu ermöglichen, veröffentlicht deshalb das Statistische Bundesamt auch den EU-weit vergleichbaren Indikator AROPE, der berücksichtigt, was Personen sich tatsächlich leisten und inwieweit Personen am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.

    Viel Lärm um nichts

    Nur in einem kleinen Nebensatz des Protestbriefs, der den meisten Medien entgangen ist, wird deutlich, was die Unterzeichner tatsächlich bemängeln: Das Statistische Bundesamt berechnet eine bestimmte Variante der Armutsgefährdungsquote nicht mehr. Die Daten des MZ-Kern existieren weiterhin und daraus werden nach wie vor umfassende, regional und soziodemografisch detaillierte Armutsgefährdungsquoten berechnet und veröffentlicht.

    Der einzige Unterschied: Die Armutsgefährdung orientiert sich jetzt am Medianeinkommen des jeweiligen Bundeslandes statt am Bundesmedian. Das bedeutet, dass Menschen in Thüringen nun nicht mehr mit einem bundesweiten Mittelwert verglichen werden, in den auch hohe Einkommen aus dem Münchner Umland mit einfließen. Man kann diese Änderung so auffassen, dass sie einen wenig aussagekräftigen statistischen Durchschnitt zugunsten einer differenzierteren Betrachtungsweise aufgibt und damit die unterschiedlichen Lebensrealitäten in Deutschland besser abbildet. Auf das Problem der Verwendung des Bundesmedian zur Berechnung von Armutsquoten haben wir bereits in unserer allerersten Unstatistik im Jahr 2012 hingewiesen.

    Fakten statt Fake News: wissenschaftliche Freiheit ist nicht eingeschränkt

    Mit gutem Grund veröffentlicht das Bundesamt nur eine „amtliche“ Armutsgefährdungsquote. Alle anderen Daten stehen der Forschung weiterhin zur Verfügung – wenn auch mit einer Verzögerung von zwei bis drei Jahren. Jeder Wissenschaftler kann über das Forschungsdatenzentrum des Statistischen Bundesamts Zugang beantragen und eigene Analysen durchführen.

    Sogar aus den veröffentlichten Statistiken könnte ein erfahrener Armutsforscher die Armutsgefährdungsquote nach dem Bundesmedian leicht selbst berechnen. Die Unterzeichner des Protestbriefs scheinen dazu jedoch nicht in der Lage – oder nicht willens – zu sein.

    Der Vorwurf der „Unwissenschaftlichkeit“ oder einer „Einschränkung der wissenschaftlichen Freiheit“ ist daher schlicht falsch.

    Vertrauen in Statistik ist die Grundlage einer funktionierenden Demokratie

    Uns beunruhigt zutiefst, wie schnell, leichtfertig, und teilweise wider besseres Wissen inzwischen auch in Deutschland von „Manipulation“ und „politischer Einflussnahme“ geschrieben wird, wenn einigen Personen oder Institutionen eine von Statistischen Bundesamt veröffentlichte Zahl nicht passt. Noch bedenklicher: Einige Medien übernehmen diese vermeintlichen Skandale dankbar und oft unkritisch, ohne die politischen oder wirtschaftlichen Absichten der Urheber zu hinterfragen. Dadurch untergraben sie das Vertrauen in eine bedeutende demokratische Institution.

    Das Bundesstatistikgesetz (BstatG), § 1, stellt unmissverständlich klar: „Für sie [die amtliche Statistik] gelten die Grundsätze der Neutralität, Objektivität und fachlichen Unabhängigkeit.“ Als Mitglieder der „Kommission Zukunft Statistik“ (Bauer, Radermacher, Schüller) und langjähriger Vorsitzender des Statistischen Beirats (Bauer) haben wir das Statistische Bundesamt stets als fachlich unabhängig von jeder politischen Weisung erlebt. Das scheint aber nicht mehr zu reichen. Um die Unabhängigkeit für die Zukunft zu sichern, sollte dem Statistischen Bundesamt endlich eine Rechtsstellung ähnlich der des Bundesrechnungshofes gegeben werden.

  7. Avatar von Nils Neumann
    Nils Neumann

    Was das RWI schreibt sollte man genauso mit Vorsicht genießen, da sind auch nur Theoretiker am Werk:

    „Das sind sie auch nicht. Sie haben höchstwahrscheinlich niemals existiert, sondern waren das Ergebnis von Messfehlern durch die weniger präzise und systematisch verzerrte Erfassung im MZ-Kern.“

    Hat das denn jemand überprüft? Hat denn auch „höchstwahrscheinlich“ jeder Befragte bei SILC seine Aktenordner rausgekramt und seine verschiedenen Jahreseinkünfte peinlich genau zusammengerechnet? Oder wurde eher gut geschätzt und hat man sich somit auch verschätzt? Dann wären trotz theoretisch präziserer Messung das Ergebnis durch unsystematische Fehler schlechter. Bei kleinen Fallzahlen macht so ein Schätzfehler dann noch mal mehr aus. Zumal man ihn nicht rausrechnen kann.

    „Die Unterzeichner des Protestbriefs scheinen dazu jedoch nicht in der Lage – oder nicht willens – zu sein.“

    Der Vorwurf ist schon peinlich, da das RWI vorher selber schreibt, dass aktuelle Daten erst Jahre später verfügbar werden. Man kann also faktisch nicht zeitnah dieselbe Datengrundlage auswerten. Das hat nichts mit wollen zu tun.

    Die entscheidende Frage ist doch: Wenn man z.B. aus SILC, aus MZ-Kern, aus der EVS oder aus dem SOEP etwas zu dem Thema berechnen kann und jeder sich sein eigenes Bild machen kann, warum schränkt man dann die Öffentlichkeit künstlich ein? Faktisch nimmt das Statistische Bundesamt jedem einzelnen die Möglichkeit selbst zu entscheiden, welche Ergebnisse man benutzt. Faktisch sind die Ergebnisse aus MZ-Kern auch nicht falsch.

  8. Avatar von Dagmar Ertl
    Dagmar Ertl

    Armutsmessung in der Sackgasse: Warum regionale Daten für die Bundesländer unverzichtbar sind

    Armutsgefährdungsquoten sind ein zentraler Indikator für politische Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut – und das gilt nicht nur auf Bundesebene, sondern auch für das politische Handeln in den Bundesländern, Regionen und Großstädten. In der bisherigen wissenschaftlichen Debatte wird die Bedeutung dieser Quoten für konkrete politische Entscheidungen jedoch kaum berücksichtigt. Doch was bedeutet es für die Politik in kleineren Bundesländern, Regionen und Großstädten, wenn auf die Veröffentlichung von Armutsgefährdungsquoten verzichtet wird, die nach dem Bundesmedianeinkommen auf Basis des Mikrozensus-Kern (MZ-Kern) berechnet wurden?

    Die mittlerweile als amtliche Hauptquelle für die Armutsmessung ausgewiesenen Daten basieren auf EU-SILC – einer Unterstichprobe des Mikrozensus. Für das kleine Saarland bedeutet das: Die Armutsgefährdungsquote wird auf Grundlage von lediglich 500 bis 600 Haushalten ermittelt, während im vollständigen Mikrozensus rund 5.000 Haushalte befragt werden. Schon bei den MZ-Daten kam es insbesondere bei soziodemografischen Detailauswertungen, aber auch bei der Gesamtquote, zu deutlichen stichprobenbedingten Schwankungen. Auf Basis der EU-SILC-Daten dürfte eine belastbare Interpretation der Armutsentwicklung im Land kaum noch möglich sein. Das hätte gravierende Folgen für die Wahrnehmung der Armutslage und die politische Steuerung – gerade in einem Bundesland, in dem die Armut zuletzt deutlich zugenommen hat.

    Es reicht nicht aus, lediglich Daten nach dem Landesmedian des MZ-Kerns zu veröffentlichen. Die auf dem Bundesmedian basierenden Daten sind deutlich aussagekräftiger, da sie auf den Angaben aller Haushalte in Deutschland beruhen. In einem wohlhabenden Land ist es richtig, Armut als relative Größe zu erfassen. Dafür braucht es eine bundesweit einheitliche Bezugsgröße für das mittlere Haushaltseinkommen, nicht zuletzt, um dem Grundsatz der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse bundesweit Rechnung zu tragen. Es erscheint zumindest diskussionswürdig, auch die Berechnungsbasis zu regionalisieren – mit der Folge, dass wirtschaftlich schwächere Bundesländer eine niedrigere Armutsgefährdungsquote ausweisen. So liegt die Quote in Bayern bei 15,1 %, in Sachsen hingegen bei 13,0 %, und in Westdeutschland bei 16,6 %, während sie in Ostdeutschland nur 14,8 % beträgt.

    Für die politische Arbeit in den Bundesländern ist daher die Veröffentlichung differenzierter Armutsquoten nach dem Bundesmedian auf Basis des MZ-Kerns unverzichtbar! Ein Schulterschluss mit regionalpolitische Akteuren wie Wohlfahrts- und Sozialverbänden, den Kirchen, der Gewerkschaften und der Arbeitnehmerkammern sollte angestrebt werden.

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